Norbert Voll
Der Bach-Choral als Grundlage der Klangarbeit im Blasorchester
„ …Kann man mit einem Blasorchester Bach zum Klingen bringen? Man kann !
Und mehr noch: Man kann auch mit Bach ein Blasorchester zum Klingen bringen! …“
Hinter diesem Wortspiel verbirgt sich eine interessante Methode der Klangarbeit, die ich hier vorstellen möchte. Das Ziel der Klangarbeit ist es, die Musiker für einen schönen Klang zu sensibilisieren, auf den kein Orchester verzichten kann. Der schöne Klang ist für die Orchester von grundlegender Bedeutung, er muss einer der wichtigsten Arbeits- und Musizieraspekte sein.
Arbeit am Klang heißt, dass wir an den drei Klangkriterien Tonhöhe, Klangfarbe und Lautstärke arbeiten. Ich selbst setze schon seit vielen Jahren das Kanonspiel zur Klangarbeit ein, so wie ich es in meinem Buch ,,… bis es immer besser klingt …“ unter dem Begriff der „Erweiterten Einblasmethode für Blasorches- ter“ beschrieben habe. Darüber hinaus verwende ich auch Bach-Choräle.
Warum gerade Bach-Choräle?
Klangarbeit mit Bach-Chorälen führt rasch ganz selbstverständlich und automatisch zu klanglichen Fortschritten. Die Bach-Choräle fordern geradezu auf zur Klangarbeit mit chorisch besetzten Bläsergruppen (Orchester und Ensembles), weil sie dafür wie geschaffen sind:
- Die Bach-Choräle werden von den Musikern sehr gerne gespielt, denn jeder Choral ist ein Kunst- werk. Weil die Musiker die Choräle so gerne und mit Freude spielen, sind sie bereit am Klang zu arbeiten; und wenn sie auf diese Weise lernbereit sind, sind die optimalen Voraussetzungen für die „Tongebung“
- Die Choräle sind kontrapunktisch so angelegt, dass jede einzelne Stimme für sich eine melodische Linie zu spielen hat, die die Musikerinnen zur Gestaltung anregt. Kein Part ist bei den Chorälen auf das Spielen von Akkordtönen beschränkt, jede Stimme ist von gleicher melodischer Gewichtigkeit. Diese Herausforderung für alle ist gerade für Intonationsübungen
- Beim Blasen der Bach-Choräle spielen üblicherweise die technisch flexibleren Musiker im Orchester die ersten Stimmen. Das heißt, sie spielen die hinlänglich bekannten und meist einfachen Haupt- stimmen. Dagegen sind die Anforderungen an die zweiten bis vierten Stimmen deutlich höher: Aufwendiger Rhythmus und differenzierte Intonation sind nun auch von den Musizierenden zu bewältigen, die sich häufig lediglich in den Harmonien der Begleitakkorde wiederfinden.
Die Bach-Choräle sind also nicht nur wunderbare Musik; sie sind ein ebenso wunderbares ,,Übungsmaterial“ für die Klangarbeit. Welche Bach-Choräle kommen in Frage?
Bach hat weit über dreihundert vierstimmige Choralgesänge geschrieben. Für Blasorchesterbearbeitungen halte ich die Choräle mit einfacheren rhythmischen Figuren für besonders geeignet. Die im DIVERTIMENTO-Verlag erschienenen Choräle sind Transkriptionen, eingerichtet für komplettes Blasorchester, meinst transskribiert in die Blasorchester-„Haustonart“ Es-Dur oder eine klanglich verwandte Tonart. Denn es lässt sich gerade anfangs dann am besten am Klang arbeiten, wenn sich die Musiker mit dem Notenmaterial wohlfühlen, das heißt, in einer gut liegenden Tonart, die beim Spielen möglichst kein Hindernis in Form von zu vielen Vorzeichen oder schwierig zu spielenden Griffen darstellt.
Bei der Auswahl der Choräle ist es selbstverständlich auch von Bedeutung, wie sie sich in Konzertprogramme einbeziehen lassen. Es unterstützt unsere Probenarbeit, wenn die Musiker erleben, dass Klang nicht mit völlig abstraktem Material geprobt wird, sondern dass das, was geprobt wird, auch aufgeführt werden kann. Und nicht zuletzt können auch die Dirigenten den Chorälen meist mehr abgewinnen als trockenen Tonleiterstudien.
Wie wird mit den Chorälen geprobt?
Ich habe mit einer Übezeit von maximal fünfzehn Minuten sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Arbeit keinesfalls überdosieren!
Und so sehen die einzelnen Abschnitte aus:
1. Erstes gemeinsames Durchspielen
Zunächst sollen die Musiker den Choral einmal gemeinsam durchspielen. Merke: Am Anfang steht der Rhythmus! Die dynamische Basis ist hierbei die „Zimmerlautstärke“.
Wenig Dirigat, jedoch gemeinsames Atmen von Dirigent und Orchester an den vorgegebenen Atemzeichen. Gemeinsame Atemlänge und gemeinsamer Atemrhythmus stellen sich mit etwas Erfahrung bereits beim Durchspielen ein. Den Takt nicht „schlagen“, sondern das Orchester im Vor-sich-hinspielen in den eigenen (inneren) Rhythmus finden lassen. Das ist später für die Klangfarbe wichtig. Und: Die Töne nicht drücken oder dynamisch forcieren lassen. Vielleicht ist es schon nach dem ersten gemeinsamen Durchspielen möglich, eine vorläufige Kritik anzumerken. Positive Formulieren unter- stützen dabei den weitern Probenablauf und fördern den schönen Klang! Was können wir den Musiker zu den drei Klangkriterien schon jetzt sagen?
2. Wechselweise unisono- und mehrstimmiges Spiel
Nach dem ersten gemeinsamen Durchspielen des Chorales wird nun abwechselnd ein-, zwei-, drei- oder vierstimmig weitergeprobt. Besonders das Unisono-Spiel ist wichtig. Die von einander getrennten Einzelstimmen sind besonders überschaubar. Hier kann ganz exakt kontrolliert und korrigiert werden. Auch beim zwei- und dreistimmigen Spielen steht zunächst immer eine der Stimmen im Vordergrund der Probenarbeit. Die anderen Stimmen fungieren dabei zunächst als Richtschnur, zum Beispiel bei Fragen der Stimmung und Intonation, Klangfarbe und Klangmischung oder der Dynamik und Balance. Wir achten darauf, dass immer nur kleine Abschnitte (zum Beispiel achttaktige Phrasen, Schlussphrasen usw.) geprobt werden. Es wird exemplarisch geprobt, damit die anderen nicht beschäftigten Musiker nicht zu lange warten müssen. Ihre Konzentration soll erhalten bleiben; Atmung, Ansatz und Gelenke sollen warm bleiben.
Motivieren Sie die Musiker, sich an der Arbeit zu beteiligen. Beispiel: Geben Sie nicht die Richtung an, in der sich die zu korrigierende Tonhöhe verändern soll. Fordern Sie statt dessen von den Musiker, selbst zu kontrollieren und zu verbessern. Das Heranführen an kritisches Hören lohnt sich früher oder später.
3. Die Anforderungen
Die Anforderungen, die an das Orchester beim Unisono-Spielen und beim mehrstimmigen Spielen zu stellen sind, orientieren sich an den drei Kriterien, die den Klangbegriff definieren: Tonhöhe, Klangfarbe und Tonstärke. Ich halte diese Reihenfolge für sinnvoll. Die folgenden Aufführungen zeigen warum.
Zwei Punkte sind dabei zu berücksichtigen. Und zwar die Grundstimmung und die Intonation. Jedes Orchester hat eine bestimmte, orchesterspezifische Grundstimmung. Diese Grundstimmung ist Voraussetzung für die Arbeit an der Intonation. Für ein Blasorchester ist hierfür klingend B oder klingend F besonders geeignet.
Die Stimmung kann selbstverständlich von Zeit zu Zeit mit einem Stimmgerät an einem bestimmten Ton ausgerichtet werden. Ein ständiges Hantieren mit dem Stimmgerät und Anzeigen, ob Töne höher oder tiefer zu spielen sind, löst die Probleme der Grundstimmung eines Orchester allerdings kaum. Die Grundstimmung wird sich vielmehr nach und nach durch ständige Beschäftigung mit dem Orchester- klang herauskristallisieren. Die Grundstimmung kann nicht kurzfristig erzwungen werden. Beim Ein- stimmen (und später beim Intonieren) gilt immer: Den Musikern nicht die Verantwortung abnehmen und Richtungen anzeigen, sondern sie selbst kontrollieren und korrigieren lassen.
Beim Einstudieren der Bach-Choräle werden wir rasch erkennen, dass sie für das Erarbeiten differenzierter Intonation hervorragend geeignet sind. Indem wir zwei verschiedene Arten der Intonation, die lineare und akkordische, in den Choral einarbeiten, wird deutlich, dass Intonation ein hervorragendes Mittel der Interpretation ist. Das Prinzip heißt: Plastisches, spannungsgeladenes Ausmusizieren der Melodie und reines Ausstimmen der Akkorde. Die Melodietöne werden zueinander in spannungsreiche Beziehungen gesetzt, denen die Schlussakkorde der einzelnen Phrasen als rein gestimmte Ruhepunkte gegenüber stehen:
Innerhalb des Melodieverlaufes achten wir auf enge 3./4. und 7./8. Stufen (leittönig intonieren) sowie auf Verdeutlichen der zusätzlichen leiterfremden Vorzeichen.
Im Gegensatz hierzu werden alle durch die Fermaten gekennzeichneten Schlussakkorde rein gestimmt. Die Terzen werden tiefer intoniert, das heißt, nicht leittönig, sondern akkordisch gemäß ihrer Lage in der Naturtonreihe.
Zum Umgang mit der Grundstimmung und der Intonation gehört etwas Übung. Aber bald werden sich Bewusstsein und Gehör hierfür ausbilden, und die Fertigkeiten werden sich einstellen.
Die Klangfarbe charakterisiert den Klang wesentlich. Wie schon erwähnt setzt sich der Klang aus vielen einzelnen Obertönen zusammen; Menge und Zusammensetzung dieser Mischung bestimmt den Klang beziehungsweise die von uns gewünschte Klangfarbe. Obertonarme Klänge (Töne) klingen eher dumpf und „tragen“ nicht. Einen obertonreichen, tragenden Ton versuchen wir folgendermaßen zu erreichen: Es soll weich, aber transparent und leicht artikuliert werden. Alle Töne, bis hin zu den Sechzehntelnoten, werden eher breit gespielt. Die Mundstücke dürfen nicht angepresst oder festgebissen werden. Wir achten auf „Low Pressure“. Hohe Töne dürfen nicht herausgeschrieen werden. Im Piano hingegen soll die leise Dynamik nicht durch Unterdrücken des Klanges erreicht werden. Es soll ein weicher und lockerer Klang entstehen, den wir konsequent einhalten. Nehmen Sie aus dem Orchester die Anspannungen heraus.
Besonders wichtig: Die erwünschte Klangfarbe kommt nur bei rhythmisch exaktem Spiel zustande. Alle „verwackelten“ Einsätze sind nicht nur rhythmisch ungenau, sie führen auch durch die verschobenen Einschwingvorgänge der einzelnen Instrumente zu einem verzerrten Klang. Die Aufgabe der Dirigenten besteht darin, die Einsätze und Impulse zwar differenziert und äußerst präzise zu geben, deren Härte jedoch gleichzeitig weich abzufangen.
Die Tonstärke, das heißt die dynamischen Änderungen, passen wir am Ende des Choralblasens an. Zwar ist die Dynamik ein unverzichtbarer Teil des Musizierens. Alle Dynamik aber kann und sollte nur im Klang entstehen. Denn oftmals gehen Intonation und schöne Klangfarbe in extremeren dynamischen Bereichen völlig verloren. Erst wenn wir in einem „bequemen“ dynamischen Bereich sauber in- tonieren können und zu einer schönen Klangfarbe gefunden haben, können wir auch das dynamische Spektrum ausweiten.
Das dynamische Ausbalancieren der Bach-Choräle ist schnell erreicht. Gute Klangbalance entsteht dann, wenn wir die erste Stimme im Vergleich zu den drei anderen in ihrer Lautstärke etwas zurück- nehmen. Alle wichtigen harmonischen Wendungen, die sich aus dem Verlauf der einzelnen Stimmen ergeben, sollten dynamisch leicht heraus gehoben werden. Übergangsdynamik war im Barock nicht üblich!
Im Rahmen der Klangarbeit sind neben Tonhöhe, Klangfarbe und Tonstärke auch Faktoren wie At- mung, Ansatz und Haltung zu beachten. Diese Themen sollten daher im Ausbildungsprogramm der Blasorchester genügend vorbereitet werden. Ich verweise auch hierzu auf mein Buch ,,… bis es immer besser klingt …“.
4. Musikalischer Stil der Bach-Choräle
Alle Noten, auch die Sechzehntel, werden im barocken Stil weich und breit gespielt. Hier lässt sich der Begriff „detache“, den die Streicher für liegenden Bogen verwenden, direkt übertragen: Die Töne werden weich und klangvoll direkt aneinander gereiht.
- Dissonante Klänge, z. B. Vorhalte, Durchgänge usw. werden bewusst ausmusiziert (ohne dabei zu übertreiben).
- Die Tempi sind durchweg fließend. Der Rhythmus kann „swingen“, dabei sollte das Linienspiel nicht verloren
- Synkopische Auffassung der Barockmusik: Die unbetonten Zählzeiten (Schlag 2 und 4 im 4er Takt) erhalten etwas mehr Gewicht. Auch hier in der Linie bleiben und nicht übertreiben.
Beitrag zuerst erschienen in Clarino 5/1996